Historiographiegeschichte

Neuere Studien zur Geschichte der Geschichtsschreibung von Christian Simon, Georg Iggers und Lutz Raphael.

Die Historiographiegeschichte befasst sich mit der Geschichte der Geschichtsschreibung. Das Nachdenken des Historikers über seine eigene Arbeit hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurück reicht. Als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft führt die Historiographiegeschichte aber eher ein Schattendasein an den Universitäten. Nicht nur bei Studenten gilt sie als theorielastige und praxisferne Selbstreflexion.

Inner- und außerwissenschaftliche Einflüsse auf die Geschichtsschreibung

Den Einführungen und Überblicksdarstellungen von Christian Simon, Georg Iggers und Lutz Raphael gelingt es nicht, diese Vorurteile zu widerlegen. Dazu setzen die drei Spezialisten ein Wissen um Theorien und Fachbegriffe voraus, in das sich die meisten Leser erst mühsam einarbeiten müssen. Wer dazu bereit ist, erfährt grundlegendes über die Entwicklungslinien der Geschichtsschreibung im internationalen Rahmen von den Anfängen ihrer Verwissenschaftlichung bis heute. Eigentlich sollte diese Kenntnis eine Mindestanforderung für jeden Historiker sein, um seine eigene Tätigkeit nicht intuitiv zu betreiben, sondern sie um bestimmte Themen und Methoden gruppierten Schulen zuordnen zu können. Denn niemand forscht und schreibt im luftleeren Raum. Übereinstimmend verweisen Simon, Iggers und Raphael auf außerwissenschaftliche Einflussfaktoren. Die Geschichte hat, trotz aller Professionalisierung, nie aufgehört, als politische Legitimationswissenschaft zu dienen. So spielte und spielt sie bei der Herausbildung und Formung von Nationalbewusstsein eine ganz immense Rolle. Die Tätigkeit des Historikers erschöpft sich jedoch – im Gegensatz zur Meinung mancher linksextremer und postmoderner Verschwörungstheoretiker – nicht im Zulieferbetrieb für politische Ideologien. Innerwissenschaftliche Einflussfaktoren müssen mindestens gleichgewichtig berücksichtigt werden. Wie Geschichte geschrieben wird, hängt auch immer von der Erschließung neuer Methoden, Themen und Quellengattungen ab.

Außerwissenschaftliche Geschichtsschreibung

Im Unterschied zu den meisten Arbeiten, die sich mit Historiographiegeschichte befassen, will Christian Simon das Thema nicht auf die Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin reduzieren. Die Berücksichtigung vor- und außerwissenschaftlicher Geschichtsschreibung ermöglicht es, die Vorläufer der modernen verwissenschaftlichten Geschichte in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit einzubeziehen. Dies leistet Simons Buch jedoch allenfalls rudimentär, denn die Jahrhunderte vor der Aufklärungshistorie werden sehr knapp und allgemein abgehandelt. Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto länger und präziser werden die Kapitel. Gleichzeitig verengt sich die Perspektive ab dem 19. Jahrhundert jedoch wieder auf die namhaften Fachhistoriker.

Christian Simon: Historismus als „deutsches Modell“

Simon stellt den Historismus als methodisch wie politisch konservative Epoche in der deutschen Historiographie vor. Viele der von ihm beispielhaft angeführten Historiker passen aber überhaupt nicht in dieses Bild: der Spätaufklärer Arnold Heeren (1760- 1842), der unkonventionelle Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818- 1897), der Liberale Theodor Mommsen (1817- 1903). Demgegenüber fehlen Personen wie Heinrich von Treitschke (1834- 1896), Dietrich Schäfer (1845- 1929), Max Lenz (1850- 1932) oder Erich Marcks (1861- 1938), die Rankes Historismus in jene preußisch- deutschnationale Bahnen lenkten, die Simon vehement als „deutsches Modell“ kritisiert. Dieses Modell galt im europäischen Ausland als vorbildhaft was methodische Exaktheit und Institutionalisierung an den Universitäten anbelangt. Doch am Beispiel Großbritanniens und Frankreichs zeigt Simon, dass gerade die verspätete Institutionalisierung und Schulenbildung in Zusammenwirkung mit einer liberaleren politischen Kultur zu einer frühen und erfolgreichen Öffnung gegenüber sozial-, kultur- und strukturgeschichtlichen Themen führte. In Deutschland behauptete sich hingegen die personen- und ereigniszentrierte Politikgeschichte des Historismus noch bis in die 1960er Jahre.

An der Ich- Form, manchen Gedankensprüngen und Querverweisen merkt man, dass Simons Buch auf dem Text einer Vorlesung basiert. Obwohl dies die Qualität des Inhalts nicht schmälert, wäre eine Überarbeitung sinnvoll gewesen.

Georg Iggers: Paradigmenwechsel

Für Georg Iggers, der als weltweit führender Experte für Historiographiegeschichte gilt, hat die Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert zwei Paradigmenwechsel erlebt, welche die vorherrschenden Methoden und Themen der Forschung jeweils bestimmten. Die Geschichtswissenschaft habe sich im chronologischen Dreischritt vom Historismus über die historische Sozialwissenschaft zur „neuen Kulturgeschichte“ entwickelt. Letztere identifiziert Iggers, etwas verkürzt, mit dem „lingusitic turn“. In älteren Auflagen von Iggers Buch stand, ähnlich wie bei Simon, der erste Paradigmenwechsel, d.h. vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft, im Vordergrund. In den Neuauflagen von 1993 und 2007 wird dem zweiten Paradigmenwechsel, d.h. von der historischen Sozialwissenschaft zur „linguistischen Wende“, mehr Raum gegeben. Diesen Wandel verfolgt Iggers mit einiger Skepsis und wendet sich insbesondere gegen jene postmodernen Tendenzen, die den Status der Geschichte als Wissenschaft in Frage stellen oder einem Neohistorismus das Wort reden. Dabei handelt es sich allerdings um Diskussionen, die sich in philosophischen und literaturwissenschaftlichen „Elfenbeintürmen“ abgespielt haben, auf die Praxis der Geschichtsschreibung aber kaum Auswirkungen hatten. Die Leistung der „neuen Kulturgeschichte“ besteht darin, neue Themen und Nachbarwissenschaften für die Geschichte erschlossen zu haben, während ihr methodisches Profil unscharf geblieben ist und von einem „turn“ zum nächsten springt.

Lutz Raphael: Historische Denkstile

Diese Unschärfen hat Lutz Raphael zum Anlass genommen, das von Jörn Rüsen und Georg Iggers vertretene Paradigmenmodell in Frage zu stellen. Auszumachen sei eher ein gradueller, aber nie vollständig abgeschlossener Wandel von „historischen Denkstilen“. Über sie werde ein Repertoire an Erkenntnisinteressen und Methoden, das für eine Teildisziplin charakteristisch ist, auf die Geschichtswissenschaft als ganze ausgedehnt. Die These vom Paradigmenwechsel setzt Themenbereiche und Methoden in eins und übersieht daher Kontinuitäten in der historiographischen Praxis. Beispielsweise lassen sich sozialgeschichtliche Methoden in der Politikgeschichte oder kulturgeschichtliche Methoden in der Sozialgeschichte beobachten, was darauf schließen lässt, dass Historiker in ihrem Alltagsgeschäft pragmatischer und von vorherrschenden Paradigmen unabhängiger sind als Iggers meint. Seine These von den „historischen Denkstilen“ untermauert Raphael mit Textauszügen von „klassischen“ Werken, die als typisch für eine bestimmte Schule der Geschichtsschreibung gelten können. Wen die Auswahl der Historiker und Beispieltexte nicht überzeugt, kann zusätzlich zu Raphaels Monographie die ebenfalls von ihm herausgegebenen Klassiker der Geschichtswissenschaft zu Rate zu ziehen. Der zweibändige Sammelband stellt Biographie und Werk von 25 namhaften Historikern von der Aufklärung bis zur Gegenwart vor.

Die Beschäftigung mit den Leistungen einzelner Historiker hat den Vorzug, dass sie der Historiographiegeschichte ein Stück weit ihre Abstraktheit und Theorielastigkeit nimmt. Gleichzeitig wird aber die Befassung mit Geschichte auf die Produkte einer kleinen Elite reduziert, wodurch die Gefahr entsteht, an der Geschichtskultur einer Epoche vorbei zu forschen.

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