Marcel Mauss und sein Essay „Die Gabe“

1925 erschien das Essay „Die Gabe“ von Marcel Mauss (1872-1950). Bis heute ist es ein Standardwerk in Soziologie und Ethnologie.

Marcel Mauss’ Onkel, Émile Durkheim (1858-1917), gilt als einer der Begründer moderner Sozialwissenschaften. Sein Neffe war einer seiner eifrigsten Schüler und schrieb unermüdlich Beiträge in der Zeitschrift Année Sociologique, die sie gegründet hatten; so verfassten Durkheim und Mauss gemeinsam den berühmt gewordenen Beitrag über „primitive Klassifikationsformen“. Doch der Erste Weltkrieg brachte eine Wende: Viele Mitstreiter der Année Sociologique fielen. Émile Durkheim selbst starb als gebrochener Mann nur kurz nach seinem Sohn André. Es war Marcel Mauss, der sich an die Edition der unvollendet gebliebenen Arbeiten seiner toten Kollegen machte – zulasten der eigenen Forschung.

Marcel Mauss, ein Fleißarbeiter

„L’essai sur le don“, das Essay über die Gabe jedoch, ist Mauss’ eigenen Interessen und Forschungsgebieten entsprungen. Wie die meisten frühen Ethnologen war Mauss nie auf einer Feldforschung unterwegs, er passt vielmehr ins Bild des Lehnstuhlethnologen. Doch der unermüdliche Fleiß, mit dem der passionierte Religionshistoriker und Soziologe Quellen aus verschiedensten Kulturen zusammenträgt und analysiert, machen „Die Gabe“ zu einem lesenswerten Erlebnis.

„Die Gabe“

Dabei geht es Mauss nicht um eine umfassende Gesellschaftstheorie. Er analysiert eben das Phänomen der Gabe in seiner Meinung nach „archaischen Gesellschaften“, bringt damit ebenso Beispiele aus Polynesien, Samoa und Neuseeland wie aus Nordwestamerika, dem alten Rom oder dem germanischen Recht. Dreh- und Angelpunkt ist der Aspekt der verpflichtenden Reziprozität: Eine Gabe verpflichtet den Empfänger unwiderruflich zur Gegengabe. Das Geben beinhaltet somit auch immer Machtbeziehungen und Abhängigkeiten.

Mauss, Malinowski und die Trobriand-Inseln

Eines der Beispiele, die Marcel Mauss bringt, ist das von den melanesischen Trobriand-Inseln. Zu dieser Region lagen ihm umfangreiche Materialien vor: Denn es war dort, wo Bronislaw Malinowski, der Vater der ethnologischen Feldforschung als teilnehmender Beobachtung, jahrelang geforscht hatte. Marcel Mauss stellte mit seiner Analyse aber erst die Bedeutung von Malinowskis Werk heraus. Er konzentrierte sich auf das „Kula“, eine besondere Art von Handelsbeziehung zwischen den Inseln.

„Kula“ ist dabei eine ganz spezielle Interaktion, die nicht auf Weitergabe oder Austausch nützlicher Gegenstände zielt. Stattdessen werden polierte Muschelarmreifen (mwali) und Perlmutthalsketten (soulava) in bestimmte Richtungen weiter gegeben: mwali von Ost nach West, soulava von West nach Ost. Sie haben Namen und Geschichte und müssen nach einer gewissen Zeit weitergegeben werden. Einen solchen prestigeträchtigen Gegenstand zu erhalten ist also kein Geschenk – es ist eine Gabe.

Totale soziale Tatsachen

Mauss entdeckte, dass in den von ihm analysierten Gesellschaften die Institution der Gabe eine „totale soziale Tatsache“ war, da sie alle Bereiche des sozialen Lebens umfasste: Sie konnte wirtschaftliche, religiöse, rituell orientierte, mystische, rechtliche und eben nicht zuletzt soziale Implikationen haben. Das Konzept der totalen sozialen Tatsache sowie seine Beobachtungen zum verpflichtenden Charakter der Gabe, die in manchen Gesellschaften zu wahren Wettbewerben führen kann, sind der eigentliche Verdienst des Theoretikers Mauss.

Der Mensch als Maschine

Nicht zuletzt schließt „Die Gabe“ auch mit einer nüchternen Analyse der Gegenwart, die heute noch so aktuell scheint wie vor achtzig Jahren. „Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ‚ökonomischen Tier’ gemacht“, schreibt Mauss im Frankreich der Nachkriegsjahre und fährt fort: „Und es ist noch nicht lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine.“

In diesem Sinne hat seine Analyse der Gabe als sozialer Institution etwas Beschwörendes, geht es bei dieser doch schließlich um Werte, um den Geist der Dinge, um soziale Beziehungen. Das mag einer der Gründe sein, warum sich „Die Gabe“ auch heute noch als faszinierende Lektüre anbietet.

Marcel Mauss‘ „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“ ist erschienen im Suhrkamp Verlag in der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft (Frankfurt am Main 1968, 1990).

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