Wer hat die Psychiatrie erfunden

Psychiatrie

Geschichte der Psychiatrie – Ambivalenz im Wandel der Zeit. Ausgrenzen oder helfen? Die Geschichte der Psychiatrie zeigt eine wechselhafte gesellschaftliche Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen. Wer erfand die Psychiatrie?

Im Schnitt kann man davon ausgehen, dass fast jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens einmal an einem psychischen Leiden erkrankt. Krankheiten wie Demenz, Depressionen, Schizophrenie, Alkoholabhängigkeit und Bipolare Störungen können die Betroffenen zutiefst in ihrem normalen Alltagsablauf stören. Laut einer Hochrechnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Industrieländer werden im Jahr 2030 bereits fünf von zehn der mit den stärksten Beeinträchtigungen verbundenen Erkrankungen (Global Burden of Disease) im Bereich der Psychiatrie zu finden sein. Heutzutage werden psychische Störungen als Krankheit gesehen und entsprechend behandelt. Dies war nicht immer der Fall. Ein Rückblick auf die Geschichte der Psychiatrie zeigt den ambivalenten Umgang mit psychisch kranken Patienten. Dieser war je nach Zeitgeist entweder geprägt durch das Bedürfnis, den Kranken zu helfen oder aber durch Ängste vor den „Andersartigen“ und dem Wunsch, sie auszugrenzen oder gar zu töten.

Die Antike – Theorie der Körpersäfte

Von der Antike bis in die Neuzeit stützte sich das medizinische Verständnis des Abendlandes in erster Linie auf die Theorien Hippokrates (etwa 460-377 v. Chr.) und Galen (129-199 n. Chr.). Die griechischen Ärzte waren davon überzeugt, dass im menschlichen Körper vier Säfte zirkulieren: Blut, Schleim, Gelbe und Schwarze Galle. Würden diese Körpersäfte in ein Missverhältnis geraten, führe dies zu einer körperlichen und seelischen Erkrankung. Der noch heute gebräuchliche Ausdruck „Melancholie“ stammt aus jener Zeit. Aus dem Griechischen abgeleitet, bedeutet er übersetzt „Schwarzgalligkeit“. Einzige Möglichkeiten der Behandlung sah man damals in körperlichen Eingriffen, die das Gleichgewicht der Körpersäfte wieder herstellen sollten. Dass man den psychisch Kranken auch helfen kann, indem man mit Einfühlungsvermögen und Verständnis auf sie zugeht, wurde erstmals im 1. Jahrhundert nach Christus schriftlich festgehalten. Der römische Schreiber Celsus riet zwar ebenfalls zu „heilsamen Schmerz“ oder „heilsamen Schrecken“, ebenso wichtig erschien ihm aber das „heilsame Gespräch“.

Das Mittelalter – Exorzismus und Reliquien

Der Umgang mit psychisch kranken Menschen im Mittelalter war gekennzeichnet durch Exorzismus und den Glauben an Reliquien. Pilgerreisen zu Reliquien-Stätten waren in der damaligen Zeit keine Seltenheit. Eine berühmte Wallfahrts-Stätte war beispielsweise der belgische Ort Gheel, wo die irische Königstochter Dymphna begraben liegt. Angehörige ließen teilweise die psychisch Kranken in der Nähe eines solchen Reliquienortes zurück, darauf hoffend, dass sich dies positiv auf den Geisteszustand des psychisch Kranken auswirke. Häufig nahmen sich Bauern in der Nähe gegen Bezahlung der Betroffenen an und setzten sie zur Feld- oder Hausarbeit ein. Im späten Mittelalter wurden Geisteskranke dann als Hexen gesehen und verabscheut. Tausende geistig verwirrte Menschen wurden von der Inquisition gefoltert und verbrannt. Den einzigen Schutz vor Verfolgung boten oft nur Klöster oder Domspitäler. Hier kümmerte man sich einfühlsam, allerdings nur um die friedlichen Geisteskranken. Randalierende und gewalttätige Kranke wurden weggesperrt und angekettet, teilweise sogar in Holzkisten vor den Stadtmauern.

19. Jahrhundert – Gewalt und zwangfreie Behandlung

Ausgrenzung, Zwang und Gewalt bestimmten bis Mitte des 19. Jahrhunderts den Alltag der Geisteskranken. Sie mussten Schläge mit Stöcken und Peitschen über sich ergehen lassen, wurden an die Wand gekettet oder zum Zwangsstehen gezwungen. Ein Umdenken im Umgang mit den Patienten ist in außerordentlichen Maß Wilhelm Griesinger (1817-1868) zu verdanken. Nach einem Aufenthalt in England, setzte sich der Reformpsychiater ab 1861 intensiv für eine zwangfreie Behandlung der psychisch Kranken ein. Nachdem er seine Ideen erst in Zürich, dann in Berlin in die Tat umsetzen konnte, folgten viele Kliniken in ganz Deutschland seinen Anregungen. Später rief Griesinger sogenannte Stadtasyle ins Leben. Diese oft im Pavillion-Stil errichteten Häuser befanden sich zumeist in weitläufigen Parkanlagen, welche eine beruhigende und heilende Wirkung auf die Psyche der Patienten ausüben sollten. Die Behandlung der Geisteskranken fußte auf einen pflegend-passiven Ansatz, langwierige Bettkuren und äußerste Ruhe standen hierbei im Vordergrund.

Nationalsozialismus – Zwangssterilisation und Tötung

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernommen hatten, kursierten viele Ideen, wie mit Geisteskranken umgegangen werden soll. 1934 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)“ auf den Weg gebracht. Hierin wurde verfügt, dass Personen mit beispielsweise „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und zirkulärem Irresein“ einem Amtsarzt gemeldet werden müssen. Dieser beantragte daraufhin im Normalfall beim „Erbgesundheitsgericht“ die Zwangssterilisation der sogenannten „erbkranken Ballastexistenzen“. Diese Maßnahmen gingen den Nationalsozialisten, die die „Volksgesundheit“ gefährdet sahen, allerdings nicht weit genug. Im Oktober 1939 wurde ein „Geheimer Führererlaß“ verordnet, der eine schrittweise Tötung von bis zu 70.000 psychisch kranker Menschen vorsah. Die zur Tötung bestimmten Menschen wurden auf sechs Tötungsanstalten verteilt und durch Kohlenmonoxidgas umgebracht. Obwohl 1941 der Erlass offiziell für beendet erklärt wurde, starben bis Kriegsende 1945 durch weitere Aktionen insgesamt mehr als 150.000 psychisch kranke Menschen.

Neuzeit – pharmakologische Behandlung und ambulante Versorgung

Ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Psychiatrie ist die medikamentöse Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen. In den 50er-Jahren wurde mit unterschiedlichsten Wirkstoffen experimentiert. Neuroleptika zur Behandlung psychiotischer Erkrankungen erzielten einen durchschlagenden Erfolg. Auch erste Antidepressiva wurden entwickelt, die für eine dauerhafte Stabilisierung psychisch Kranker sorgten. Der zuvor im Schnitt drei Jahre andauernde Verbleib in einer psychiatrischen Klinik, konnte in vielen Fällen auf drei Monate reduziert werden. Auch verringerte sich die Dauer und Häufigkeit von Fixierungen und Isolierungen der Patienten sehr stark. In den 70er-Jahren richtete sich das allgemeine Interesse zunehmend auf die gravierenden Mängel im psychiatrischen Bereich. Ärzte- und Personalmangel, zu große Kliniken und eine zu geringe ambulante Versorgung sorgten für ein weiteres Umdenken. Neben der pharmakologischen Behandlung stehen Patienten mittlerweile vielseitige weitere Möglichkeiten, beispielsweise ambulante Psychotherapien und sozialtherapeutische Maßnahmen, zur Verfügung.

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